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Weshalb der Westen überlegen ist

Autor: Frank Bruns

Mit den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen nach Afrika und Amerika im 15. Jahrhundert begann die mehrere hundert Jahre dauernde Phase der europäischen Expansion auf weite Teile der Welt. Sie verlief so erfolgreich, dass man sich in Europa selbst darüber wunderte. Man fragte sich, was die europäischen Staaten so überlegen machte, dass sie zur vorherrschenden Macht auf dem Erdball werden konnten. War es vielleicht die besondere Kultur Europas oder möglicherweise sogar biologische Merkmale? Schenkt man den Ausführungen des Historikers Ian Morris Glauben, ist die Antwort verblüffend.

Titelbild: Weshalb der Westen überlegen ist.

Es wurde auf vielfältige Weise versucht, die europäische Erfolgsgeschichte zu erklären, auch biologische Ansätze waren darunter. Danach wird die europäische Überlegenheit darauf zurückgeführt, dass Europäer über das vielseitigere Genmaterial verfügen.

Der anatomisch moderne Mensch (Homo sapiens) stammt in direkter Linie vom ersten aufrecht gehenden Menschen (Homo erectus) ab. Parallel dazu entwickelte sich in Europa aus dem Homo erectus auch der Neandertaler (Homo neanderthalensis). Als nun der moderne Mensch von Afrika nach Europa und Asien auswanderte, traf er in Europa auf den Neandertaler und vermischte sich mit ihm. Aus dem genetischen Austausch mit dem gut auf die widrigen Umwelt- und Lebensbedingungen in Europa angepassten Neandertaler ging der moderne europäische Mensch gestärkt hervor, so die Argumentation. Es habe sich dadurch eine biologisch begründete, angeborene Überlegenheit gegenüber den Völkern anderer Regionen herausgebildet. So weit, so rassistisch und außerdem wissenschaftlich völlig unhaltbarer Quatsch. Experten sind sich einig darüber, dass die Einteilung der Art Homo sapiens in unterschiedliche Rassen biologisch nicht zu rechtfertigen ist.

 

Die Entwicklung von Rassentheorien, die die Europäer als übergeordnete Rasse ansahen, war Teil des Versuchs, die erfolgreiche europäischen Expansion zu erklären.

Aber was war dann der entscheidende Faktor für den Erfolg?

Als man sich im 18. Jahrhundert diese Frage stellte, suchte man nach dem fundamentalen Unterschied, der Europa in der Welt hervorhob. Einen plausiblen Ansatz sah man in den antiken Griechen. Sie stellten seit jeher das bindende Glied der europäischen Kulturgeschichte dar. Viele herausragende Entwicklungen, die zum Charakteristikum westlicher Zivilisationen werden sollten, sind griechischen Ursprungs. Die Ideen zu Philosophie, Logik, Naturwissenschaft, Kunst, Religion und Demokratie hatten allesamt großen Einfluss auf den Werdegang Europas. Sie machten die europäischen Gesellschaften letztlich zu den höchstentwickelten der Welt, so die Annahme, und bildeten damit die notwendige Voraussetzung für das Aufkommen der Industriellen Revolution eben dort. Erst durch sie wurde die Expansion im globalen Maßstab überhaupt möglich. Plötzlich standen den Europäern ungeahnte technische und logistische Ressourcen zur Verfügung. Folglich sei es kein Zufall, dass der Westen die Welt beherrsche, sondern eine Folge seines außergewöhnlichen intellektuellen und kulturellen Erbes griechischer Prägung. Das ist die noch heute - auch unter vielen westlichen Historikern - verbreitete Lehrmeinung und ein gängiger Weltanschauungskonsens in Europa.

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Verlauf der Kolonialisierung seit dem 15. Jahrhundert.

Der Historiker Ian Morris hat es sich zur Aufgabe gemacht, den historischen Entwicklungsstand von Gesellschaften zu quantisieren und damit vergleichbar zu machen. Dazu hat er den sogenannten Social Development Index erarbeitet, der den Zeitraum von 14.000 v. Chr. bis heute umfasst. Er bewertet den Entwicklungsstand einer Gesellschaft anhand von vier Faktoren: Ausmaß der Energiegewinnung, Organisationsstrukturen, Informationstechnologien (z.B. Schrift) und Kriegsführungskapazitäten. Morris nutzt den Social Development Index, um die Entwickeltheit von West und Ost gegenüber zu stellen. Unter dem Westen versteht er dabei die zivilisatorischen Kerngebiete Europas, der USA und des Orients, den Osten bilden China und Japan. Aus vielen Jahren der Datenerhebung und -auswertung resultiert der folgende Graph:

Social Development Index nach Ian Morris, der den Entwicklungsstand der westlichen Zivilisationen denen des Ostens über einen Zeitraum von 16.000 Jahren gegenüberstellt.
Quelle: Why The West Rules - For Now: The Patterns of History and what they reveal about the Future - Ian Morris, 2010

Social Development Index nach Ian Morris, der den Entwicklungsstand der westlichen Zivilisationen denen des Ostens über einen Zeitraum von 16.000 Jahren gegenüberstellt (hier nur 12.000 Jahre dargestellt).

Der Graph beginnt ungefähr zum Ende der letzten Eiszeit, die zeitlich mit dem ersten Ackerbau der Menschheitsgeschichte in Mesopotamien zusammenfällt. Etwa bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. liegt der Westen in seiner Entwicklung insgesamt vorne. Es fällt jedoch auf, dass gerade im ersten Jahrtausend v. Chr. , also der Blütezeit der griechischen Kultur, die den Westen so maßgeblich prägte, der Osten fast gleichauf ist. Der Niedergang des weströmischen Reichs Ende des 5. Jahrhunderts und damit der Kollaps hoch entwickelter Zivilisationsstrukturen in Europa, leitete den Führungswechsel ein, so dass für mehr als 1200 Jahre der Osten, bzw. China, den deutlich höheren Entwicklungsgrad aufweist. Erst mit der Industriellen Revolution im späteren 18. Jahrhundert konnte das Blatt wieder gewendet werden und der Graph des Westens (rot) schießt steil nach oben. Der Graph des Ostens (blau) folgt mit Verzögerung, bleibt aber bis heute mehr als 1/3 hinter dem des  Westens zurück.

 

Unter den Gesichtspunkten, dass der Westen erst seit gut 200 Jahren die Nase wieder vorn hat und auch in der griechischen Hochphase nur geringfügig besser entwickelt war als der Osten, fällt es schwer, zu argumentieren, dass er die Vorherrschaft übernommen hat, weil er - den Griechen sei Dank - das überlegene Maß an Kultur und Zivilisation besaß.

 

Schon mehrfach wurde die Industrielle Revolution als der Wendepunkt genannt, der die aktuelle westliche Dominanz herbei geführt hat. Ihr gingen seit den Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier im 15. Jahrhundert zahlreiche neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik voraus, ohne die sie nicht in dieser Form hätte stattfinden können. Wie kommt es aber, dass die Industrielle Revolution ausgerechnet in Europa ihren Anfang nahm und nicht in China oder Japan, obwohl der Osten bis zum 18. Jahrhundert einen höheren Entwicklungsstand aufwies? Morris liefert hierfür eine Erklärung, die sich auf ein einziges Wort reduzieren lässt: Geografie

Nicht durch Kultur, Religion, Politik, überlegene Gene oder das Handeln großer Menschen könne die Vormacht des Westens wirklich erklärt werden, sondern vielmehr durch seine vorteilhafte  geografische Lage.

 

Die sogenannte Entdeckung der Neuen Welt (die aus Sicht der indigenen Völker Amerikas weder neu, noch unentdeckt war!) stellte die Gelehrten des Westens vor Herausforderungen, die im Osten zu dieser Zeit einfach weniger zwingend waren. Der starke Drang, die reichen Bodenschätze des amerikanischen Kontinents möglichst gewinnbringend zu erschließen und der aufkommende atlantische Dreickeckshandel wurden zu Triebfedern des technischen Fortschritts. Man stand plötzlich vor völlig neuen militärischen, technologischen und nautischen Fragestellungen und konzentrierte die wissenschaftlichen Anstrengungen mit Hochdruck auf sie. Die gewonnenen Erkenntnisse katapultieren den Stand der Technik massiv nach vorne und brachten den Europäern große Gewinne ein. Die Kombination aus Fortschritt und neuem Wohlstand setzte am Ende die Industrielle Revolution in Gang.

 

Warum aber stieß ausgerechnet das weniger entwickelte Europa auf den amerikanischen Kontinent und wurde auf den Pfad des Fortschritts geführt? Chinesische Schiffe wären dazu ebenso in der Lage gewesen, wie die ausgedehnten Expeditionen Zheng Hes im Pazifischen und Indischen Ozean (1405 bis 1433) eindrucksvoll unter Beweis stellten.

 

Der chinesische Admiral Zheng He war zu Beginn des 15. Jhd. der größte Seefahrer seiner Zeit und leitete Seeexpeditionen, die ihn von China über die arabische Halbinsel nach Ostafrika führten.

Jetzt kommt die Geografie ins Spiel. Wie Morris in seinem Buch Why The West Rules - For Now bemerkt, waren die Landkarten sehr zu Gunsten des Westens gemischt. Die geografische Distanz von Europa nach Amerika ist nur etwa halb so groß wie die von China nach Amerika, so dass die Wahrscheinlichkeit, früher oder später auf diesen Kontinent zu stoßen, für Europa viel größer war. Die kürzeren Wege und günstigeren Winde im Atlantik machten den Handel für den Westen dort außerdem insgesamt profitabler als den des Ostens im größer dimensionierten Pazifik.

Quelle: Why The West Rules - For Now: The Patterns of History and what they reveal about the Future - Ian Morris, 2010
Quelle: Why The West Rules - For Now: The Patterns of History and what they reveal about the Future - Ian Morris, 2010

Für die (sogenannte) Entdeckung des wirtschaftlich wichtigen Amerikas war der Westen klar im Vorteil. Der Seeweg von Europa ist deutlich kürzer als von China aus.

Außerdem kommt noch hinzu, dass man zu der Zeit in China keinen besonderen Grund hatte, neue Handelswege zu erschließen. Man war sich bewusst, die am weitesten entwickelte Macht auf Erden zu sein und der Pazifikraum beherbergte Handelsnetzwerke, vor denen der Handel des Westens neidvoll erblasste. Sie verbanden China mit den Gebieten des Indischen Ozeans, der arabischen Halbinsel und Ostafrika (Indian Ocean Trade - bezeichnend für die westlich orientierte Geschichtsschreibung ist, dass ich im Internet praktisch keine deutschsprachige Quelle finden konnte, die den damaligen Seehandel im Indischen Ozean aus der Sicht derjenigen beschreibt, die ihn bis dahin bereits ca. 2000 Jahre lang erfolgreich betrieben haben. Er wird ausschließlich im Zusammenhang mit europäischen Entdeckungsfahrten thematisiert.).

Neben dem Warenaustausch sorgten diese Netzwerke auch für regen kulturellen Austausch mit der muslimischen Welt, die Handelsbeziehungen sehr offen gegenüber stand. Chinesische Waren waren überall heiß begehrt. Diese komfortable Situation des Ostens ließ den Fortschrittsdruck nicht so groß werden wie in Europa.

 

Da Europa geografisch vom Handel im Indischen Ozean abgeschnitten war (das Osmanische Reich kontrollierte im 15. Jahrhundert die Handelswege über Land), versuchte man, einen brauchbaren Seeweg zu erschließen. Das Bedürfnis, am Wohlstand des Ostens teilzuhaben und nicht länger das Nachsehen zu haben, motivierte den Westen schließlich zu den waghalsigen Entdeckungsfahrten mit ihren bescheiden ausgestatteten Schiffen, rund um Afrika und bis nach Amerika. Von da an nahm die Geschichte zu Gunsten des Westens ihren Lauf und schuf die grundlegenden globalen Machtverhältnisse, die noch heute Bestand haben.

 

 

Im Westen kaum bekannt: Der Seehandel im Indischen Ozean stellte viele Hundert Jahre das bedeutendste Handelszentrum der Welt dar. Größer noch als die Seidenstraße.

Die geografischen Ursachen für den Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen in der Welt würden in Zukunft allerdings bedeutungsloser, sagt Morris. Die Globalisierung fördere die Verbreitung von Wissen und technologischem Fortschritt über den gesamten Erdball und verringere so das Gewicht geografischer Begebenheiten. Auf Basis der Daten seines Social Development Index rechnet er hoch, dass der gesellschaftliche Entwicklungsstand des Osten um das Jahr 2100 wieder über dem des Westen liegen wird.

Warum habe ich mich entschlossen, diesen Artikel zu schreiben? Was habe ich bisher mit fast allen Artikeln bewirken wollen?

Ich möchte die Leser*innen dazu anregen, einmal die Perspektive zu wechseln, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Auf unseren Landkarten war Europa immer im Zentrum, quasi der Mittelpunkt der Welt. So sind wir aufgewachsen und es fühlt sich befremdlich an, wenn eine Karte nicht auf diese Weise angeordnet ist. Nichtsdestotrotz leben wir auf einer Kugel. Wer sich im Mittelpunkt befindet ist ausschließlich eine Frage der Perspektive. 

 

Menschheitsgeschichte ist seit vielen Jahrtausenden eine globale Angelegenheit. Kulturen und Regionen können kaum unabhängig von einander betrachtet werden. Der kulturelle Austausch zwischen Europa und Asien hat schon vor langer Zeit begonnen. In Deutschland wurde beispielsweise chinesische Seide in einem keltischen Grab aus dem  6. Jahrhundert v. Chr. gefunden. 

 

Ähnlich wie die Menschen einst ernüchtert feststellen mussten, dass das Universums sich nicht um sie dreht, sondern die Erde einen sehr durchschnittlichen Stern in einer sehr durchschnittlichen Galaxie umkreist, so möchte ich klarstellen, dass der Westen keinen besonderen Grund hat, sich und seine Geschichte als herausragend zu betrachten. Die Welt ist nicht nur Europa oder der Westen. In allen Regionen der Erde sind großartige Leistungen vollbracht worden, die es ebenfalls zu würdigen gilt. Viele Entwicklungen fanden im Osten statt, lange bevor der Westen soweit war. Selbst zur Blütezeit der Identifikation stiftenden Griechen war der Vorsprung des Westens nicht weltbewegend. Nach einer langen Phase des Rückstands liegt er nun erst seit knapp 200 Jahren wieder vorne. Im historischen Maßstab gesehen ist das relativ kurz. Dennoch, ganz gleich, ob Ost oder West, keine Region besetzte durchgehend die Führungsposition und für die Zukunft deutet sich schon wieder ein Wechsel an.

 

Aus der Vorstellung im kollektiven Bewusstsein des Westens, eine Sonderrolle in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gespielt zu haben, ist viel Negatives erwachsen. Die angenommene Überlegenheit der eigenen Kultur und Zivilisation war und ist ein zentrales Muster in der Entstehung von Rassismus. Und niemand von uns möchte ein Rassist sein, oder?


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Posted by FRANK AND FREE on Sonntag, 3. Januar 2016


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Kommentare: 5
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